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Diesseits der Hermeneutik, Genossinnen!

Fahim Amir’s Review von A text is a list of effects of being exposed to the vacuum of outer space und eine Parataxe ist eine in sich selbst faltende Falle. Erschienen in CORPUS, August 2009


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Diesseits der Hermeneutik, Genossinnen!

ZEITGENOSSENSCHAFT ALS STOTTERNDES KINO VERGANGENER ZUKUNFT BEI KRÕÕT JUURAK UND RALO MAYER

Von Fahim Amir

Die Performance A text is a list of effects of being exposed to the vacuum of outer space und eine Parataxe ist eine in sich selbst faltende Falle. Readings of The Ninth Biospherian von multiplex fiction: Krõõt Juurak und Ralo Mayer (12., 14. & 16. Mai 2009) beginnt im Barbereich des Wiener brut-Konzerthauskellers mit einem „Infodump“: zwei Sci-Fi-Aktanten lesen zur Einführung in den Abend einen künstlich anmutenden Dialog vom Blatt ab.

Im Gestus der Probelaufs wird das Publikum darüber aufgeklärt, dass gleich eine Lesung stattfinden werde; darüber hinaus werden Empfehlungen zur Rezeption der Performance ausgegeben: Es gehe bei der folgenden Lesung darum, sich auf Details zu konzentrieren, statt zu versuchen, das merkwürdige Buch „The Ninth Biospherian“, das die Grundlage ebendieser Lesung sei, als Ganzes verstehen zu wollen. Unvermittelt wird erklärt, dass die Parataxe, also die konjunktionslose Aneinanderreihung von Hauptsätzen, eine Rolle spiele werde und dass Camouflage nicht auf mimetischer Verschmelzung beruhen müsse, sondern auch durch „disruptive patterns“ erzielt werden könne – Tarnung durch Störung von Wahrnehmungsdispositiven. Immer wieder stockt der Dialog oder nimmt subjektivistische Wendungen, die die Sachbuchprosa poetisch perforieren und unter parataktische Spannung setzen: „Have you ever felt emptyness? I want to escape.“

Konzeptuelle Komposthaufen

In der Leere des abgedunkelten Vorstellungsraums hebt im Anschluss eine Lesung der beiden PerformerInnen an, die sich über weite Strecken wie ein spielerischer und zugleich konzentrierter Abwurf von Informationsnetzen und performativen Rhetoriken unterschiedlicher ästhetischer Episteme und Semantiken auf ein Publikum ausnimmt, das sich als Kollaborateur selbst in die Bedeutungsproduktion einreihen soll. Der narrative Faden der Lesung wird im Verlauf des Abends eine Textur bilden, die seiner auszugsweise vorgetragenen Textgrundlage folgt, dem fiktiven Buch „The Ninth Biospherian“; dieses leuchtet den imaginären, technologischen und sozialen Raum aus, den die Biosphäre 2 in die Zeit gefaltet hat. Acht Menschen bestiegen Ende des kurzen zwanzigsten Jahrhunderts jene als autark konzipierte Sphärenwelt, die als Modellwelt des Planeten Erde – der Biosphäre 1 – einen Probendurchlauf für die zukünftige Kolonisierung des Weltraums ermöglichen sollte.

Das Weltmodell scheiterte an den „soft facts“, am Faktor Sozialität – die Crew hatte sich trotz einer Unmenge gruppendynamischer Rollenspiele zerstritten. Im Verlauf von zwei Jahren in der Biosphäre 2 hatte sie zudem ein Fünftel ihres Gewichts verloren; in einem geschlossenen System mussten diese Abfälle der Besatzung in anderer Form erhalten bleiben, meinen Juurak und Mayer, nämlich als imaginäres neuntes Crewmitglied, der genannte „ninth biospherian“. Als das Produkt der negativen Synergie der Biosphären-Menschen wird er zum Gespenst, das die Ruinen des verlorenen Raumfahrtzeitalters heimsucht. Als Gegenstand des Buches, einer Biographie der Innen- und Außenwelt des Geschöpfs, betritt er die Bühne als künstlerischer „Nomos“ (Giorgio Agamben)  jener Zeit, die eben noch die unsere war.

Die PerformerInnen wiederum treten mit dem Versprechen an, durch eine passagenweise Lesung und Aufführung des Buches dieses in einer geradezu Benjaminschen Bewegung zu übersetzen und darzustellen. Der fiktive Primärtext zeigt sich so fortwährend nur als Spur im Sekundärdiskurs der performativen Installation, die von ihm zu sprechen vorgibt. Subjektivierung von unten, no world is innocent.

Anti-Dioramen sind Barrikaden

Der Theaterraum wird dabei als Modell des Weltalls verhandelt und letzteres als die größte Kinoleinwand überhaupt. Der Stil der Aufführung wirkt bewusst provisorisch und scripthaft gesetzt und erinnert an ein Deleuzianisches Re-enactment, das sein Original erst produzieren muss – mithilfe eines Protagonisten, der keiner ist. Der „ninth biospherian” wird vielmehr als Subjektfigur in den Performanceraum geworfen, mit deren Hilfe semifiktionale Vor-, Zwischen- und Nachgeschichten unserer Gegenwart freigelegt werden sollen. Innerhalb einer Realität, die als Ensemble von Beziehungen und Prozessen aufflackert, erscheint er als historischer Block von Interferenzen in einem Kraftfeld flacher Ontologien. Damit entzieht er sich einer verengt räumlich gedachten Zeit und taucht deshalb in den Mythen nachgeborener Space-Age-Kinder so selbstverständlich auf wie in seinem natürlichen Habitat, dem Dschungel-Biom, das in der Biosphäre 2 nachgebaut wurde. Wie der Dschungel wirkt er wie ein Gegenbild zur Leere interstellarer Räume.

Das Mischwesen aus Leviathan und Behemoth ist der „Modest_Witness” (Donna Haraway) einer epistemischen Krise vor ihrer scheinbaren Überwindung durch den Konsens der Moderne, der Subjekte und Dinge, Politik und Wissenschaft, Faktizität und Fiktivität wie erfrorene Schlachtreihen gegeneinander aufstellte. Aus den Verlusten, Rollenspielen, Utopien und Exzessen endlicher Wesen entstanden, nimmt der „ninth biospherian“ die Gestalt eines Techno-Dschinns aus Arizona an, in dem sich das Soziale neu ordnet: Challengerkatastrophe und Techniken zur Menschenführung, Architektur-Manifeste und der Sputnik-Schock sind nur einige Elemente unter vielen in einer Liste, die eine spezifische Konstellation auf dem materiell-semiotischen Sternenhimmel über und in dem „ninth biospherian“ bildet – ein Kalter Krieger, den niemand über Ende des Systemkonflikts unterrichtet hat, ein Sternzeichen, das in die falsche Zeit gerutscht ist. Ähnlichkeiten zu gegenwärtig in Umlauf befindlichen Subjektivierungsformen sind beabsichtigt, in ihnen die Resonanzen seiner Entstehung nachzuspüren, ist eines der Ziele der Lesung. Die Liste fungiert dabei zugleich als besondere Technologie des kartographischen Prozesses einer Vermessung des Universums der Modellwelt und ihres Originals, das selbst nur als Modell vorstellbar bleibt; zugleich ist die Liste selbst eine Karte dieser sich ständig verdoppelnden Repräsentationsregime.

Das arme Kino hoch n

Die Lesung funktioniert durchwegs wie eine kinematographische Theatermaschine, in deren Getriebe sich kaleidoskopisch arrangierte Daguerreotypien bewegen, die Bilder biopolitisch produktiv gewordener Sozialitäten und Begehren in alle Richtungen projizieren. Durch Montage und Überlagerung entsteht ein gleichsam holografischer Effekt. Da die konzeptuellen und narrativen Ströme der Performance durch unterschiedliche künstlerische Verfahren und Disziplinen geschickt werden, nehmen letztere gleichsam den Charakter von physikalischen Medien an und wirken diffraktionell. Mit Diffraktion bezeichnet Donna Haraway in Analogie zu Lichtbrechung und -ablenkung einen strategisch-narrativen Modus: konkrete Phänomene werden so dicht beschrieben und transkulturell verknüpft, dass sie in Bewegung geraten und in unvorhergesehene Richtungen steuern.

So gelangen wir plötzlich zur Frage nach dem Leben selbst und seiner Einspeisung in den integrierten Schaltkreis globaler Inwertsetzungsströme: Wie könnte eine nicht-Bergsonische Liste von Antworten aussehen? WoW und social skills, Ich-AGs und Sputnik-Schock, Amazon, Tertiarisierung und Kulturalisierung von Ökonomien, Bio-Essen und SUVs, kreativer Imperativ und das erschöpfte Selbst, nicht zu vergessen den größten Listengenerator, Google. Und was fügte sich hier nicht ein? Der Exzess, das Mehr, der Überschuss, und wieder: der „ninth biospherian”. Die exzessive Diskurszirkulation innerhalb der Vorstellung selbst wird immer wieder unterbrochen oder außerdiskursiv: durch Sound, der so ohrenbetäubend wird, dass kein Wort der PerformerInnen mehr zu verstehen ist, Mal durch den Übergang des Textes in sinnlose Laute, ein anderes Mal durch Klopfen. Sind die beiden DoppelagentInnen, die Performance selbst ein „disruptive pattern“?

O mein Gott, es ist voller Sterne!

Die Materialität der Inszenierung ist knapp gehalten; die im Performanceraum gelegentlich sichtbar werdenden Objekte ähneln mehr Referenzpunkten auf – oder präziser: in – einem mehrdimensionalen Reißbrett. Kurz leuchtet die Neonschrift „Ruine“ auf, dahinter rottet eine Bananenstaude vor sich hin; zumeist besteht die primäre Beleuchtung im Widerschein des Lichts der Laptop-Bildschirme im Gesicht der PerformerInnen, die zumeist auch in ebenjene blicken. Da das Licht aus den Monitoren seine Farbe unentwegt ändert, wabert eine mysteriöse Strahlung aus den modernen Kristallkugeln. Als verknappte theatralische Mittel stellen sie Inszeniertheit als solche aus, Stellvertreter für Stellvertreter. Mal ziehen die PerformerInnen den Firnis der Naturwissenschaftlichkeit über, den Laborkittel, dann stellen sie fast ironisiert die Reaktion des ungeschützten menschlichen Körpers auf die extremen Zustände des Vakuums nach; dazwischen erfolgt ein dokumentarisch anmutender Bericht über das Rauschen des eigenen Blutes als dann einzig hörbarer Soundtrack dieses Zustands. Der Trick ist, nicht zu atmen, eine eigentümliche Handlungsanweisung.

Was tun Revolutionäre in nicht-revolutionären Zeiten?, fragte einst Johannes Agnoli. Was wenn die Verhältnisse einem gar die Luft abschnüren?, lässt sich im Jahr 2009 zuspitzen. Eine Performance wie The Ninth Biospherian zu besuchen oder zu machen, scheint dem Autor  eine der besten Antworten zu sein.

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