Probe
in Selbstregie
Besuch beim Chor der Selbsorganisierten.
daegseingcny
"We've
read Karl Marx and we've taught ourselves to dance" - allein diese
eine Zeile und schon lässt Aina alle Zweifel fahren, wieso sie eigentlich
hierher kam. Gerade laufen die letzten Takte des adaptierten Bros-Hits.
Aina scant den Raum, die Anwesenden, ihr Gesichtsausdruck verrät,
daß sie die nicht sichbaren Linien erforscht, die Strukturen des
sozialen Raums: Feinheiten die ein Spektrogramm vermissen liesse.
Vor ca. zwei Stunden ist v. Fiehlen zur halböffentlichen Chorprobe
der Uni gekommen. Sie ist das erste Mal dabei, aber die Situation scheint
ihr vertraut: zehn bis fünfzehn Leute, Studienabschluss bei den meisten
noch nicht allzulange her, eine gemeinsame Aufgabe - in diesem Fall Singen
- die zwar Mittelpunkt der Aktivität ist, gleichzeitg jedoch auch
socialising -Kompost und Katalysator für Netzwerkbildung. Man singt
politisch Lieder und produziert einen politischen Raum, singend. Alles
in Selbstregie.
Der Raum
ist eine riesige Abstellkammer, ein noch nicht renovierter Saal einer
alterwürdigen Institution, den man benutzen kann, weil er in dieser
Form noch nicht als Vermietobjekt für eine Konzernfeier taugt. Neoklassizistischer
Dekor, angeblindete Spiegel an den Wänden, die die baulichen und
performativen Eskapaden ins Unendliche erweitern.
Die Chorprobe
ist also Zwischennutzerin dieser verstaubten Schnörkelei. Während
der Probenzeit wird immer öfter unklar, was nun eigentlich Probe
und was Pause ist. Die Pausen dehnen sich, einige Leute beginnen wieder
zu singen, während andere noch Kaffee trinken. Seit zwei Wochen wird
offen diskutiert, ob man Probe und Pause nicht doch wieder disziplinierter
trennen sollte. In erster Linie hat diese Diskussion jedoch zu einer weiteren
unscharfen Vermengung geführt, was wiederum reflektiert wurde; immerhin
hat man sich entschlossen, dieses Phänomen auch in den Liedern selbst
ansprechen zu wollen. Ja, die Lieder: Als nächstes steht ein Remix
eines ProgRock Klassikers auf dem Programm. Aus dem Apokalypse Konzeptalbum
"666", ein Song in dem Aphrodite's Child einen Abbie Hofmann
zugeschriebenen Gegenkultursager verarbeiten.
Der Chor
der Selbstorganisierten:
"We found the system to fuck the system
We found the system to fuck the system
We found the system to fuck the system"
usw.
Gelächter.
Die Selbstorganisierten machen Zigarettenpause und reden wieder mal über
die späten Sechziger. Wieder mal. Einige unterhalten sich über
ihre eigene Vergangenheit und das Verhältnis von Raum und Arbeit.
Matt, mit seinen Ende 30 sicher einer der Älteren in der Runde: "Vor
ca. 15 Jahren sind wir aus dem Atelier ausgezogen. Wir wollten wieder
raus, rein in die Gesellschaft, uns vermischen, und sei es nur mit anderen
Atelierflüchtlingen."
Andere Stimmen melden sich:
- Wir haben ja auch die anderen gesucht. Die da schon mal raus waren.
Schauen was aus denen eigentlich geworden ist?
- Naja..., also im Grunde haben wir ja die Kündigung bekommen. Die
haben uns rausgeschmissen, wir sollten uns nen Job suchen in der Kreativwirtschaft.
- Einen Job suchen? Einen Job erfinden! Und um ehrlich zu sein, haben
wir unseren Job gut gemacht. Da können wir eigentlich stolz sein.
Da sind wir schon auch ein bisschen stolz, ODER?
- Also ich bin da gar noch nicht so lange dabei. Ich denk mir das nur
so. Für mich hat sich die Entscheidung so gar nicht gestellt, Atelier,
oder nicht Atelier, bzw. die stellt sich eigentlich erst jetzt... Das
mit dem projektbasierten Arbeiten, also ich weiss nicht. Hat sich totgelaufen.
Wieder zur Geste geworden. "KünstlerInnen mit ihren flexiblen
und auf Subjektivität aufgebauten ökonomischen Lebensmodellen
werden zum Idealbild postffordistischer Arbeitsverhältnisse, auch
hier wird die materielle Produktion im Atelier mehr und mehr durch projektbasierte
Recherchen und Kommunikationsnetzwerke abgelöst."
Neulich in einem Förderantrag gelesen. Oder geschrieben? In solchen
Aussagen trifft man auf eine seltsame Mischung aus Selbstkritik und Stolz.
Denn so ist man als KünstlerIn wieder wer, nicht wahr? Nach den Situationisten
war das Modell der Avantgarde in der Kunst mal lange weg vom Fenster,
jetzt sind wir wieder dabei, die Speerspitze, und sei es auch der Ökonomie.
Kennt ihr
eigentlich die Geschichte von Frederick, der Maus? Eine Mäusefamilie
sammelt Vorräte: Körner, Nüsse usw. für den Winter.
Allein Frederick nicht. Die anderen fragen ihn "Warum arbeitest du
nicht?" Er meint, er arbeite sehr wohl, sammle Sonnenstrahlen, Farben,
Wörter. Später dann, im Winter, sind alle Nahrungsmittel aufgebraucht,
und Frederick teilt seinen Vorrat, erzählt vom Sommer und den Farben.
Die Geschichte ist ein Gleichnis für Kinder über die Rolle der
Kunst.
"Gut, lassen wir das mal so stehen, dieses reduzierte Verständnis
von Kunst. Was ich dabei heute interessant finde, ist das ja die Rolle
von immaterieller Arbeit, von affektiver Arbeit beschrieben wird. Im Kontext
der jetzigen Diskussionen zu den veränderten Arbeitsverhältnissen
stellt sich die Frage der Legitimation einer Frederickschen Arbeit eigentlich
so nicht mehr. Vielmehr, ob wir nicht alle Fredericke sind bzw. wer eigentlich
noch die Körner sammelt."
Ein paar
Meter weiter streift Aina die nächste Pausen-Konversation.
"Neulich habe ich die Muppet Show gesehen. Da war Paolo Virno zu
Gast. Er stellte sein aktuelles Buch vor, 'A Grammar of the Multitude'.
Als ich letzten Herbst in London war, auf diesem Treffen zu Künstlerinnengewerkschaften,
da hatten das alle in ihren Taschen. Das war sowas wie der inoffizielle
Konferenzreader. Virno umreisst ein differenziertes Bild der Multitude.
Einige der Schlüsselbegriffe in diesem Büchlein unterstreichen
die Rolle der zeitgenössischen Künstlerin als Vorzeigemodell
postfordistischer Ökonomie: Virtuosität, Performance und darstellende
Kunst, Gerede und Geschwätz, Wissbegierde, Kooperation. Kermit kündigt
ihn jedenfalls an, der Vorhang geht auf und Virno steht da, mit Rauschebart
als Marx, und gibt seine erste Nummer zum besten. Er hantiert mit Luftballonfiguren
und erzählt ein paar Geschichten aus den Theorien über den Mehrwert,
über die Sonderrolle der darstellenden Künstler. Bei ihnen gibt
es kein Endprodukt, das von der Performance, der Tätigkeit, dem Akt
des Produzierens trennbar wäre.
Gonzo ist
unheimlich beeindruckt von Virno und wittert die Chance, dass sein virtuoses
Talent nun endlich erkannt wird und er gross raus kommt. Er folgt ihm
auf Schritt und Tritt und will wissen, was er noch lernen muss. In seiner
Garderobe zeigt ihm Virno dann den nächsten Trick: Er zaubert Hannah
Arendt aus dem Hut; Arendt holt weit aus und vergleicht Virtuosität
mit politischem Handeln. Beide brauchen öffentlich organisierten
Raum - die Präsenz von anderen - und beide teilen den Mangel an einem
abgeschlossenen Endprodukt.
Virno hält noch zwei weitere Ausführungen: über die Rolle
von Kommunikation und Sprache im Kontext affektiver Arbeit, inbesondere
mittels zweier Begriffe Heideggers: Gerede (idle talk) und Neugier (curiosity).
Neugier ist nach Heidegger die pervertierte Form von Wissen-Wollen. Neugier
ist die ständige Suche nach etwas Neuem, ohne je bei ihm zu verweilen.
Sie tritt auf, wenn es momentan nichts zu besorgen gibt. Neugier wird
durch Nicht-
Verweilen, Zerstreuung und Aufenthaltslosigkeit charakterisiert. Das Gerede
bestimmt die Neugier - was man "gelesen und gesehen haben muß".
Am Ende der Show erklärt Virno dann dem gänzlich verwirrten
Gonzo: "Jeder von uns ist ein Virtuose, manchesmal mittelmässig
oder gar peinlich, aber immer ein virtuoser Künstler."
Inzwischen
ist die Pause vorüber, die ersten Selbstorganisierten trällern
sich wieder ein. Smiths. "And you must be surfing very long tonight
/ The devil has found work for idle times, too..." Aina muss an ihren
letzten Besuch im Schauspielhaus denken, ein Abend zu postfordistischen
Arbeitsverhältnissen. "Auf der Bühne Spiegel an der Decke,
der Champagner rose mit Eis, und sie singt 'We are all just prisoners
here, of our own device'. Tolles Stück!"
|