review by Hito Steyerl [08/2005] - home

 

“Politik der Wahrheit – Dokumentarismus im Kunstfeld”

 

„...Eine neuere Arbeit, die die weitverbreiteten elendsästhetischen Darstellungsformen von Migration unterläuft, ist das Video FORST [...]. Der schwarz-weiße Film zeigt vor allem Bilder eines undurchdringlichen und dunklen teutonischen Waldes. Im Off hören wir Stimmen, die die Erfahrung des Forstes beschreiben. Der Forst wird zu einer existentiellen Metapher für Ausgrenzung, Prekarität, Ausgesetztheit. Nach einiger Zeit vermehren sich die Hinweise darauf, dass die Off-Stimmen von Flüchtlingen stammen [...]. Das Gefühl „Forst“, eine Mischung aus finsterer Romantik, existentieller Exponiertheit und Vogelfreiheit bleibt jedoch in der Schwebe, als universale Metapher, die nicht nur auf partikularisierbare Gruppen wie Flüchtlinge zutrifft, sondern eine neue universale conditio humana darstellt. Im zweiten Teil des Films ändert sich die Stimmung. Der Wald ist nicht mehr nur eine dunkle Wüste der Einsamkeit, sondern wird zum Ort, an dem neue Kollektive entstehen können ebenso wie neue Solidaritäten. In einer eindringlichen Einstellung kommen durch den Wald langsam Gestalten in weißen T-Shirts auf uns zu, deren Gesichter wir nicht richtig erkennen können. Der Wald ist somit nicht nur Chiffre der Atomisierung, sondern auch der Ort, an dem sich Opposition formieren kann. Die neuen Kollektivitäten rufen Erinnerungen an frühere Waldbewohner hervor: an Robin Hoods Outlaws im Nottingham Forest, die Titopartisanen in den bosnischen Bergen, oder an die Gemeinschaft der letzten Bücherleser, die in Truffauts Film ‚Fahrenheit 451’ Zuflucht in einem Waldcamp finden. Wiederum handelt es sich um universale Chiffren oppositioneller Solidaritäten. Die Flüchtlinge werden nicht in ethnische oder kulturelle Traditionslinien eingeschrieben, sie sind keine Sozialfälle, sondern werden einer Tradition des Freiheitskampfes zugerechnet, für die der Forst die nötige Abgeschiedenheit bot. Insofern verweigert sich FORST radikal dominanten dokumentarischen Wahrheitspolitiken, die das öffentliche Bild von Migration beherrschen. Das Video lässt sich nicht auf die ambivalente Umdeutung besetzter Metaphern ein, sondern öffnet einen Zugang zur universalen Gültigkeit der Erfahrung von Flüchtlingen...“

Textausschnitt aus Hito Steyerl: “Politik der Wahrheit – Dokumentarismus im Kunstfeld”, veröffentlicht im Reader (S.116ff) der Ausstellung MOV!NG ON: Border Activism – Strategies for Anti-racist Actions, 13. Aug. – 11. Sep. 2005, in der NGBK Berlin;  KuratorInnen: Insa Breyer, Claudia Burbaum, Maja Figge, Alex Gerbaulet, Farida Heuck, Birgit zur Nieden, Mark Schiffner, Zala T.S. Unkmeir

Hito Steyerl ist Filmemacherin und Professorin für Cultural and Post-Colonial Studies am Goldsmiths College, London


home