Flucht aus Forst nach Vorn
Flüchtlinge
werden in der politischen Philosophie gerne als die „Avantgarde der Völker“
und als Prototypus des „revolutionären Subjekts“ glorifiziert. Tatsächlich
stellen sie zu aller erst das „nackte Leben“ selbst dar, das jenseits jeden
Rechts steht. Sie bilden so die unterste, ohnmächtigste Schicht des
gesellschaftlichen Gefüges...
Der Prozess einer Selbstermächtigung ist damit systematisch verunmöglicht
- und findet doch statt. Im Zuge der Dreharbeiten zum Film „Forst“ wurden
zahlreiche Gespräche und Diskussionen mit Flüchtlingsgruppen geführt und
dokumentiert, in denen Widerstandskonzepte unter diesen widrigen Bedingungen erörtert
wurden. Diese Interviews bilden die Basis für die Narration von „Forst“.
Die folgende Interview-Montage ist aus Auszügen dieser Gespräche
zusammengesetzt.
aus:
Diagonale
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VALENTIN:
...Ich habe mit der alten Irakerin
gesprochen und sie eingeladen. Aber sie wollte nicht kommen. Sie ist völlig
gebrochen. Gerade sie, die die Courage hatte, gegen Saddam Widerstand zu
leisten, deren Sohn im Gefängnis saß, sie hat jetzt Angst zu unserem Treffen
zu kommen. Das allein zeigt doch, dass wir hier in einem unterdrückenden System
stecken, das vielleicht noch weit effektiver arbeitet als jede offene
Gewaltherrschaft. Dort kann man bewusst Widerstand leisten, hier dagegen werden
wir auf eine unbewusste Art gebrochen. Hier sind wir theoretisch nicht
eingekerkert, doch praktisch sind wir es. Wir sind in die Natur ausgesperrt. Um
uns herum ist nur Wald, endloser Wald. Es ist ja ein Unterschied, ob ich hier in
die Natur gehen, um mich zu entspannen, um Ruhe oder Romantik zu finden, oder ob
ich hier unwiderruflich ausgesperrt bin. Sie wollen uns damit psychisch töten.
Das ist der Sinn der Sache. Sie sperren uns hier aus und spielen mit uns dieses
lustige Spiel: Wenn wir gute Flüchtlinge sind, wir uns ruhig verhalten und hier
diese psychische Folter der Isolation ertragen, dann haben wir Aussicht auf Asyl
- irgendwann. Die Wahrheit ist, dass sie es uns nie gewähren und höchstens mit
Deportation belohnen werden. Und sollten wir hier jemals herauskommen, werden
wir bis dahin gebrochene Existenzen sein und dürfen uns in die unterste Klasse
der Gesellschaft einreihen...
CHALID:
Sie sagen, dass wir warten sollen.
Aber es gibt hier viele Leute, die bereits seit drei Jahren warten. Einige sogar
seit fünf Jahren. Sie sperren uns hier in ein Gefängnis – ja, dies ist ein
Gefängnis, auch wenn sie es nicht so nennen – ohne dass wir uns etwas zu
Schulden kommen haben lassen. Das einzige Verbrechen, das sie uns anhängen
wollen, ist unsere Flucht selbst. Das ist absurd. Wir werden bestraft, aber es
gibt für mich nichts zu bereuen. Und das macht mich wahnsinnig, weil es so
sinnlos ist. Ich soll nur essen, trinken, schlafen, essen, trinken, schlafen und
warten, jahrelang warten. Und dankbar dafür sein. Ich bin zwar vor meinen
Problemen geflohen, vor politischen Problemen, und ich habe mir eine Auszeit von
meinen Problemen erhofft, aber dass ich hier völlig kaltgestellt werde, habe
ich nicht erwartet. Und sie bezeichnen das als „humanitäre Hilfe“. Ich bin
erstaunt. Wirklich erstaunt.
MARTHA:
Vielleicht denken sie, dass wir froh
über unsere Situation hier sein dürfen. Aber wo ich her kommen, dort war ich
gewohnt, mich frei zu bewegen. Okay, sie haben uns zwar das Demonstrieren
verboten und sie haben uns politisch verfolgt, aber die Kontrolle und Unterdrückung
war nie so total. Sie ist total, obwohl oder gerade weil sie so diffus ist.
BETHI:
Jedem kann hier jeden Moment die
Deportation blühen! Sie wollen uns ständig im Auge behalten, um uns jederzeit
für mögliche Deportationen verfügbar zu halten. Wir können hier zwar raus,
aber an allen Bahnhöfen lauert Polizei, die uns ständig kontrolliert und uns
wieder hierher schickt. Nennen wir es ein „offenes Gefängnis“...
VALENTIN:
Und hinterher schicken sie uns eine
Rechnung für die Rückfahrkarte - und obendrauf ein Strafverfahren wegen des Übertretens
unsichtbarer Grenzen. Ab und an kommt die Polizei auch hier in den Forst, um
irgendwen irgendwohin abzutransportieren...
CONSTANZE:
Die Irakerin ist nicht die einzige,
die Angst hat ihre Probleme zu artikulieren. Der Forst traumatisiert uns alle.
Die Leute hier sind großteils psychische Wracks, sind in die innere Immigration
gegangen. Einige sprechen mit sich selbst. Ich selbst schlafe eigentlich nur 24
Stunden durch. Und der Grund ist, dass wir keine Rechte haben. Wir müssen
willenlos erdulden. Sogar das Sprechen ist uns untersagt. Ich erinnere mich an
diese Anhörungen, in denen wir uns für unsere Flucht rechtfertigen müssen. In
Wirklichkeit haben sie sich gar nicht für meine Fluchtmotive interessiert. Ich
erzähle Ihnen von dem Trauma meines Lebens, während sie untereinander flüstern,
Witze machen und dabei Äpfel essen, um mich dann mittendrin abzubrechen und
kommentarlos aus dem Raum zu weisen. Ich bin mir sicher, dass der einzige Grund
für unsere Isolation hier derjenige ist, dass sie uns hier behandeln können,
wie es ihnen passt. Niemand dort draußen wird davon erfahren... Sie wollen uns
hier schlicht zerstören!
VALENTIN:
Wie den Junge, der Glassplitter
gegessen hat. Er hat wirklich Glas gegessen! Und sie haben es nicht für nötig
gehalten, ihm einer psychiatrischen Untersuchung zu unterziehen. Und
andererseits sind sie gerade dabei, Psychologen anzuwerben, die speziell darauf
trainiert sind, psychischen Druck auf uns auszuüben, um uns zur Rückkehr zu
bewegen.
BETHI:
Sie wollen einfach unsere Moral
brechen. Sie wollen sie abtöten. Es gibt ununterbrochen Querelen unter uns,
unter Freunden, zwischen verschiedenen Nationalitäten… Die meisten sind
depressiv und aggressiv zugleich. Viele sind drogenabhängig... Sie degradieren
uns zum menschlichen Müll. Ich fühle mich zumindest nicht mehr als Mensch. Ein
Mensch lebt nicht nur von Schlafen und Essen allein.
CONSTANZE:
Aber warum schlafen wir ständig. Es
hilft uns nicht weiter, wenn wir ihr Spiel mitspielen. Ich kümmere mich einfach
nicht mehr darum, was sie wollen. Ich tue was ich will. Es ist vielleicht sogar
besser, wenn sie Angst vor uns haben, als andersherum. Es ist besser, stark zu
sein. Stark zu sein ist nicht nur ein gutes Gefühl, es ist die einzige Möglichkeit,
in dieser Gesellschaft zu überleben. Sie müssen erfahren, dass wir das nicht
einfach hinnehmen werden. Wir brauchen den Mut und die Courage, die Angst vor
ihnen zu besiegen. Es ist höchste Zeit, dass wir zu brüllen anfangen und die
Öffentlichkeit über unsere Probleme in Kenntnis setzen. Das ist die einzige Möglichkeit
gegen unsere Unterdrückung zu kämpfen. Wir müssen in die Städte gehen und Lärm
machen.
CHALID:
Zu uns in den Wald kommt ohnehin kein
Mensch. Und wenn jemand zu Besuch kommt, schicken sie ihn entweder gleich wieder
weg, oder sie behandeln ihn dermaßen misstrauisch und feindselig, dass er nie
mehr wiederkommt.
VALENTIN:
Das Problem ist nur: Die Öffentlichkeit
interessiert sich nicht für unsere Sicht. Die Presse hat ihren Job in dieser
Hinsicht gut gemacht, indem sie dieses eigenartige Bild von uns gezeichnet hat:
wir als potenzielle Kriminelle, die Europa und seine sozialen Systeme „überschwämmen“
wollen. Für mich trägt das Ganze gewisse faschistoide Züge: Wenn du jemanden
beseitigen willst, gib ihm einen schlechten Ruf...
CHALID:
Wenn wir schweigen, werden sie
weitermachen. Und wenn wir aufmucken, werden sie ihre Repressionen vielleicht
noch ausweiten. Auf Einsicht werden wir nicht hoffen können.
CONSTANZE:
Es ist ein zweischneidiges Schwert:
Wir können unsere Isolation nur brechen, indem wir uns organisieren und in ganz
Europa publik machen, was hier geschieht. Und wir müssen die anderen Flüchtlinge
darüber in Kenntnis setzen, dass es Leute wie uns gibt. Andererseits werden wir
es nie schaffen, die Verantwortlichen und die Meinungsführer davon abzubringen,
uns derart zu behandeln, denn ich bin mir sicher, dass sie es tun, weil sie uns
hassen.
VALENTIN:
Ich denke, dass die Leute, die in
diesem System eingebunden sind, ich meine die Sozialarbeiter und die
Sicherheitsleute, sich nicht im Klaren darüber sind, was genau der Sinn ihres
Jobs ist. Sie denken vielleicht tatsächlich, dass sie uns helfen. Wir müssen
ihnen klar machen, dass der einzige Sinn ihrer Arbeit ist, uns zu unterdrücken
und von der Gesellschaft fern zu halten. Das mag in ihren Ohren verrückt
klingen, aber genauso ist es. Wir dürfen ihnen nicht mehr die Gelegenheit
geben, sich hinter ihren Gesetzen zu verstecken, so wie sie es ständig tun:
„Das Gesetz sagt dies, das Gesetz sagt jenes...“
SONNY:
Der Grund für diese zahllosen Gesetze
ist, dass sie Angst vor uns haben. Sie haben Angst, dass wir uns organisieren
und Widerstand leisten. Sie isolieren uns ja nicht nur von der Gesellschaft,
sondern sie versuchen ja auch den Kontakt unter uns Flüchtlingen zu
unterbinden. Das ist ja der Hauptaspekt des Sprechverbotes. Doch wenn wir uns
einig sind, repräsentieren wir eine große Macht, die für sich sprechen kann
und durch die wir dem System nicht mehr schutzlos ausgeliefert sind.
BETHI:
Sie werden dem nicht tatenlos
zuschauen. Sie sind gezwungen darauf zu reagieren. Sie versuchen uns einzuschüchtern.
Als sie merkten, dass ich aktiv werde, haben sie angefangen mir Probleme zu
bereiten. Sie fingen an mich auszufragen und mir mit eigenartigen Argumenten
Genehmigungen zu verweigern. Und alle Behörden scheinen dabei in einer Art
Verschwörung zusammen zu arbeiten. Auf versteckte Weise versuchen sie sogar,
die anderen Flüchtlinge von mir fern zu halten. Und sie schicken mir diese
Briefe in blauen Umschlägen. Jeder sieht das und jeder weiß, dass sie von der
Regierung kommen - was kein gutes Zeichen ist.
CHALID
: Die Repression passiert - wie die
Kontrolle - fast nie auf direktem Wege. Wenn sie das Gefühl haben, dass man
Teil einer Verschwörung gegen sie sein könnte, schicken sie einen in ein
anderes „Heim“, das noch tiefer im „Bush“ liegt - oder in Gegenden mit
einer starken, gewalttätigen Rechten. Sie haben ein Lager-Ranking, und die
schlimmsten sind für die Schwererziehbaren reserviert – für die
„Schwerkriminellen“. Blaue Briefe sind ein Zeichen dafür, dass es bald so
weit sein könnte...
CONSTANZE:
Mich haben sie in ihr Büro gerufen
und eindringlich darauf hingewiesen, das es keine gute Idee sei, mich zu
organisieren. Sie haben mir gedroht, dass es eher nur meiner Deportation förderlich
sei. Und ich weiß, dass es problematisch werden könnte, dass es mir selbst
vielleicht gar nicht helfen wird. Aber es geht auch um etwas größeres,
weitreichenderes. Wenn es mir nichts bringt, dann vielleicht anderen...
BETHI:
Wenn wir hier im Forst bleiben, wird
das überhaupt nichts ändern. Aber vielleicht können wir die Dinge für jene
ändern, die später kommen. Wir müssen dieses Risiko eingehen.
MARTHA: Schließlich
sind wir als Politiker, als politische Aktivisten gekommen. Und die meisten von
uns sind gut ausgebildet. Warum also Zeit verschwenden?
BETHI: Wenn
uns hier schon alles verboten ist, so ist es ja wenigstens erlaubt zu
Demonstrieren. Wir müssen uns hier in Europa in die Politik einmischen. Viele
von uns wissen ja gar nicht, dass wir das dürfen.
CHALID:
Das ist ja auch der Sinn der Isolation: Wir sollen dumm gehalten
werden. Wir kennen unsere Verbote, aber wir wissen nichts über unsere Rechte...
VALENTIN: Auf
der anderen Seite ist dies auch die Möglichkeit, sich wieder lebendig zu fühlen.
Der Kampf wird wieder Teil meines Lebens. Das ist eine neue, alte
Lebensperspektive. Ich sehe das auch als eine Fortsetzung meiner politischen
Arbeit - auf anderem Territorium: Jetzt bin ich in Europa und es haben sich neue
Problemfelder aufgetan. Ich bin ja nicht von meinen Mitstreitern hergeschickt
worden, um jahrelang im Wald zu schlafen. Dadurch lassen sich auch die
verschiedenen Kämpfe miteinander verbinden und in einem großen Rahmen
betrachten. Wir kommen ja alle mit verschiedenen kulturellen Hintergründen aus
allen Teilen der Welt hierher – in die Zentrale der Welt. Hier kommt alles
zusammen, Hier haben auch die Probleme der Welt ihren Ausgangspunkt. Aber es
bietet uns auch die Möglichkeit andere Sichtweisen zu verstehen, die Problem
miteinander zu verknüpfen, sich auszutauschen und sogar sensibelste Fragen zu
erörtern: Fragen der Weltordnung genauso wie Fragen zum Rassismus, Sexismus,
Antisemitismus... Wir müssen das, was wir tun, als ein neue, bessere Politik
verstehen: dass es unsere Pflicht gegenüber der Gesellschaft ist, auf eine
demokratisierte Welt hinzuarbeiten, in der es nicht möglich ist, Leute wie uns
auf diese Art zu behandeln...
Interviews
mit Mitgliedern von The Voice – Refugee Forum, Women in Exile und
der Caravan for the Rights of Migrants and Refugees. Die Interviews
wurden in englischer Sprache geführt.
InterviewerInnen: Ascan Breuer, Julia Lazarus, Lem Stachel. Transktiption:
Ursula Hansbauer, Wolfgang Konrad. Übersetzung und Montage: Ascan Breuer
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