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Die Widerspenstigen
Mit "The Voice" melden sich Asylbewerber zu Wort und kämpfen gegen die Ausgrenzung
VON ASCAN BREUER

Enge Grenzen (dpa)
Sie kam mit dem Zug. Es war winterlich kalt und der Ort bereits in Dunkelheit gehüllt. Sie war gestrandet - am Bahnhof einer fremden Stadt. Aber sie hatte eine Adresse: "Auf dem Forst 1" lautete sie. Sie fragte einige Passanten nach der Straße, aber niemand wusste Rat. Ihr war, als mieden sie die Leute. Sie beschloss schließlich, ein Taxi zu nehmen. Das Taxi verließ die Stadt und bog in einen Waldweg ein. Er führte bergauf, hinein in einen endlosen, schwarzen Wald. "Ich fragte den Taxifahrer, wo er mich hinbringe? Ob er sich des Weges sicher sei. Aber er sagte nur, ich solle still sein. Ich wandte ihm meinen Rücken zu, damit er nicht meine ängstlichen Tränen bemerkt. So kam ich in den Forst."

Constance, der junge Frau aus Kamerun, fröstelt es, wenn sie an die ersten Eindrücke denkt, die sich ihr bei ihrer Ankunft in Europa vor zwei Jahren boten. Ihr Antrag auf politisches Asyl war ihr Ticket in die Tiefen des Thüringer Waldes. "Auf dem Forst 1" - das war die Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber im Jenenser Stadtforst. Dies sollte vorläufig ihre Heimstätte sein, zusammen mit Hunderten anderer Flüchtlingen aus aller Welt. "Nach einer viertel Stunde hielt das Taxi", erinnert sie sich weiter, "am Tor einer zwei Meter hohen, mit Stacheldraht gekrönten Mauer. Dort wartete ein Sicherheitsdienst auf mich. Sie nahmen mir meine Tasche ab und begannen, sie zu durchwühlen. Andere von ihnen fingen an, mir Fragen zu stellen. Wie viel Geld und welche Aufzeichnungen ich dabei habe? Später brachten sie mich auf ein Zimmer, in dem ich wohnen sollte. Sieben Mitbewohnerinnen warteten auf mich. Ich legte mich ins Bett und schon nach zwei Tagen war ich nicht mehr die, die ich einstmals war."

Hier, in der ehemaligen sowjetischen Raketenkaserne, warteten auf sie mehrere Monate Schlaf, Lethargie und Depression - abgeschottet in der fremden Einöde, inmitten einer anonymen Masse anderer Flüchtlinge. Sie berichtet von einem Mitbewohner, der aus Verzweiflung zerbrochenes Glas aß, um sich das Leben zu nehmen.

Wer sich in Deutschland um Asyl bewirbt, muss sich einer häufig jahrelangen, ausgeklügelten Prozedur mit ungewissem Ausgang unterstellen. Und dazu gehört auch, dass man sich bereit erklärt, in einem dieser Heime zu wohnen, die die Flüchtlinge lakonisch "Dschungelcamps" nennen. Es sind oft ehemalige Kasernen wie das "Jena-Forst". Dass dieses Lager im vergangenen Jahr geschlossen wurde, ist einer der Erfolge der Kamerunerin und ihrer Freunde vom "The Voice Refugee Forum" - einer von Flüchtlingen gegründeten Interessenvertretung.

Aus dem Schlaf erwacht

Als Constance von dieser Organisation zum ersten Mal hörte, erschien ihr das wie eine Erweckung aus einem bösen Schlaf, ihre einzige Chance, diesen Wald zu verlassen und das Leben zu führen, das sie sich erträumt hatte. Schließlich ist sie als Politikerin gekommen, und eine afrikanische Oppositionelle lässt sich nicht lange in einem europäischen Wald ausgrenzen. Unterstützt von "The Voice" fing sie an, andere Flüchtlinge auf ihre Rechte aufmerksam zu machen. Sie erzählte ihnen, dass sie sich nicht zwingen lassen müssen, im Wald zu versauern. Und dass sie nicht vergessen sollen, warum sie hier sind. Kurz: Sie stiftete Unruhe. Das Asylverfahrensgesetz verbietet es den Asylbewerbern unter Androhung von Haftstrafe, den Landkreis ohne Genehmigung des Ausländeramtes zu verlassen. Für sie gilt die so genannte "Residenzpflicht", die es den Behörden erleichtert, die zig Tausend Flüchtlinge im Auge zu behalten und das komplexe Asylverfahren in all seinen Facetten bis hin zur zwangsweisen Abschiebung reibungslos zu gestalten. Dass Constance daraufhin aus "Jena-Forst" mit polizeilicher Gewalt entfernt, und in ein anderes Asylheim verfrachtet wurde, konnte sie nicht bremsen. "Ich tue, was ich will. Ich kümmere mich nicht um Sie, und ich lasse mich nicht einschüchtern", lässt sie mit leiser, fester Stimme den Verantwortlichen ausrichten. "Es ist besser, stark zu sein. Das habe ich in dieser Gesellschaft gelernt. Es ist besser, wenn sie vor mir Angst haben, als ich vor ihnen. Es ist die einzige Möglichkeit, in dieser Gesellschaft zu überleben", ist sie überzeugt.

Daher hat sie sich "The Voice" angeschlossen und fand so Gleichgesinnte und neuen Lebensmut. Sie begann, die Öffentlichkeit über die miserablen hygienischen Bedingungen der Einrichtung zu informieren, über das Essen mit abgelaufenem Verfallsdatum, das die Flüchtlinge zu sich nehmen müssen, und über ihre Misshandlung durch den Sicherheitsdienst, solange bis der Ruf der Anlage derart gründlich ruiniert war, dass sie untragbar für die Behörden wurde.

Seit zehn Jahren kämpft "The Voice" für die Rechte der Asylbewerber und gehört damit zu den wenigen Organisation, in denen sich Flüchtlinge selbst organisieren. "The Voice" hat Asylbewerber aufgerufen, zivilen Ungehorsam zu üben, falls ihnen nicht die Reiseerlaubnis erteilt wird, und ihr Recht auf politische Betätigung in die eigenen Hände zu nehmen.

Einer von ihnen ist Ahmed, ein junger Palästinenser. Er fragt niemanden mehr um Erlaubnis. Für ihn ist ganz Europa sein Landkreis. Vier Strafverfahren sind mittlerweile gegen ihn anhängig. Es fing mit 22 Euro an und hat sich mittlerweile auf 200 Euro oder 40 Tage Haft hochgeschaukelt, berichtet er anscheinend nicht ohne Stolz. Das Freikaufen käme für ihn nicht in Frage. Abgesehen davon, dass er das Geld gar nicht hat - er bekommt monatlich 40 Euro Taschengeld von den Behörden - wäre es ihm ein Gräuel, damit das "Apartheidgesetz", wie er es nennt, zu akzeptieren.


Kampf vor den Gerichten

Auch der Kameruner Cornelius wehrt sich gegen die Sanktionen. Er ist der Initiator dieser Kampagne. Er war der erste, der sich weigerte, die unsichtbaren, engen Grenzen hinzunehmen. Seit vier Jahren streitet er sich bereits mit den deutschen Gerichten. Aber auch das Bundesverfassungsgericht wollte seine Beschwerde nicht annehmen, dass die Residenzpflicht seine Menschenwürde und sein Recht auf Meinungsfreiheit beeinträchtige. Nun ist er beim Europäischen Gerichtshof vorstellig, der wenigstens eine Überprüfung zugesagt habe, verkündet er gut gelaunt.

"The Voice" sei darauf angewiesen, dass sich die Flüchtlinge über das Gesetz zur Residenzpflicht hinwegsetzen, sagen sie. Anders sei das Bestehen der Organisation nicht möglich, nur so könnten sie sich treffen. Die Mitglieder leben verstreut über das Bundesgebiet, dort wo sie das Bundesasylamt nach einem für sie unergründlichen Verteilerplan zugewiesen hat.

Residenzpflicht
Die Freizügigkeit von Asylbewerbern ist in der Bundesrepublik beschränkt. Das Asylverfahrensgesetz regelt in den Paragraphen 56 bis 59 detailliert, wer sich wo aufhalten darf. Die "Residenzpflicht" bedeutet, dass sich Asylantragsteller nur in dem Bezirk bewegen dürfen, in dem sie wohnen. Aussuchen dürfen sie ihn sich in der Regel nicht. Sie werden bestimmten Bundesländern zugewiesen, die die Flüchtlinge in ihre Aufnahmeeinrichtungen verteilen. So dürfen die Asylbewerber nicht nach Berlin fahren, auch wenn sie im brandenburgischen Umland untergebracht sind. Nur wenn "zwingende Gründe" vorliegen, erlauben die Behörden den Menschen, den Bezirk zu verlassen. Ausdrücklich heißt es dazu in Paragraf 57 des Gesetzes: "Zur Wahrnehmung von Terminen bei Bevollmächtigten, beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen und bei Organisationen, die sich mit der Betreuung von Flüchtlingen befassen, soll die Erlaubnis unverzüglich erteilt werden." Ohne Erlaubnis können die Ausländer nur Behörden- und Gerichtstermine wahrnehmen - die aber meistens ohnehin im eigenen Bezirk anfallen. Schon seit langem gibt es Proteste von Flüchtlingsorganisationen gegen die Residenzpflicht - insbesondere, weil sich Flüchtlinge schwerer rechtsradikalen Schlägern entziehen könnten. Ein Mitglied der Flüchtlingsorganisation "The Voice" versucht, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Residenzpflicht zu kippen. pit
Der Nigerianer Osaren sitzt in Berlin im Büro von "The Voice" und berichtet über die schlechten Erfahrungen mit den Staatsorganen, die die Arbeit häufig behinderten. Zur Jubiläumskonferenz im Herbst etwa hatte der Hauptgast Themba Mbhele, ein prominenter südafrikanischer Oppositioneller vom "Anti-Privatization Forum", kein Visum bekommen. Die Deutsche Botschaft habe ihm mitgeteilt, dass seine Einreise vom Innenministerium als Sicherheitsrisiko eingestuft wurde.

Osaren ist eine mächtige Erscheinung. Mit Verve erzählt er von den vielen politischen Flüchtlingen, die er und die Leute von "The Voice" vor der drohenden Abschiebung bewahren konnten. Doch die zig Tausende, die sie nicht schützen konnten, spiegeln sich in der Müdigkeit seines Gesichtsausdrucks. Osaren ist eng mit der Geschichte von "The Voice" verbunden. Eine Organisation, deren zehnjähriges Bestehen wie ein Wunder wirkt, angesichts der vielen Mitglieder, die sie ständig durch Abschiebung verliert. Von den fünf Gründern, damals im Thüringer Wald, ist Osaren als einziger übrig geblieben. Nur er erhielt nach mehreren drohenden Abschiebungen politisches Asyl.

Und dieses Wunder, so will es der Gründungsmythos dieser Organisation, beruht ebenfalls auf einem Akt politischen Ungehorsams. Als damals vor zehn Jahren eines Nachts die Polizei in sein Heim kam, um ihn nach Nigeria zurück zu deportieren, hielten seine Mitstreiter die Beamten mit viel Getöse auf, während er aus dem Fenster sprang und in den Wald flüchtete, um sich erst am nächsten Morgen ins nahe Jena zu wagen und dort Unterschlupf bei einem baptistischen Pfarrer zu finden. Erst nach einem Jahr im Untergrund konnte er die Gerichte von der Rechtmäßigkeit seines Ansuchens überzeugen.

Seitdem ist es seine Mission, gegen den Verfall der Asylrechte zu kämpfen. Nichts habe sich zum Besseren gewendet, resümiert er. Mittlerweile werde ungeniert über europäische Flüchtlingslager in Nord-Afrika debattiert. Und die deutsche Residenzpflicht, die er abzuschaffen versucht, wird voraussichtlich von der Europäischen Union als Modell herangezogen.



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Dokument erstellt am 17.01.2005 um 16:28:32 Uhr
Erscheinungsdatum 18.01.2005